Inhalt: 5/5 Sterne (innere und äußere Reise an den Rand der eigenen Welt)
Form: 5/5 Sterne (hart, umfassende, anpackende Sprache)
Komposition: 5/5 Sterne (atemlos, dicht, verschränkt, fast zu kurz)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (Literatur als Gedanken- und Gefühlpflug)
Joseph Conrads Novelle mag heutzutage berühmter als Vorlage für Francis Ford Coppolas Film Apokalypse Now sein. Sie selbst aber spielt das aus, was nur literarisch passieren kann, eine lineare, sich zirkulierende Selbstbefragung, die im Erinnern, im sprachlichen Herantasten der psychischen Mythologie der eigenen Jetztzeit auf die Schliche zu kommen versucht:
Das Garn der Seeleute ist von einer rückhaltlosen Einfältigkeit, deren ganzer Sinn in einer aufgeknackten Nußschale liegt. Aber Marlow war nicht typisch (wenn man von seiner Neigung, ein Garn zu spinnen, absieht), und für ihn lag der Sinn einer Begebenheit nicht in dieser eingeschlossen wie der Nußkern, sondern draußen, rings um die Geschichte, die ihn lediglich sichtbar machte, so wie eine Feuersglut einen Dunst sichtbar macht – ähnlich einem jener Schleierhöfe, die mitunter im gespenstischen Licht des Mondscheins sichtbar werden.
Entscheidender bei Conrad bleibt also das Nichtgesagte, das, worum die Erzählung sich dreht, ohne das, was die Erzählung behandelt, mit einem Begriff zu belegen. „Herz der Finsternis“ beschreibt vor allem eine Reise, einen Aufbruchsversuch des Erzählers und Protagonisten Charlie Marlow. Er, gepackt von Idealismus, Begehren, unruhig, zu intensiv, um sich einzurichten, muss in die letzten unbekannten Winkel der Welt reisen, also an den Rand des Bekannten, dort, wo die Karten aufhören – also ein Selbst beginnt, eine Reaktion in der Dunkelheit, die nicht antizipierbar ist:
Er war zu einem Ort der Finsternis geworden. Doch gab es darin vor allem einen Fluß, einen gewaltig großen Fluß, den man auf der Landkarte sehen konnte und der einer riesigen, sich aufringelnden Schlange glich, deren Kopf im Meer, deren Leib über eine weite Fläche hingelagert war und deren Schwanz sich in den Tiefen des Kontinents verlor. Und als ich mir die Landkarte im Schaufenster eines Ladens betrachtete, faszinierte mich der Fluß, wie eine Schlange einen Vogel fasziniert – einen dummen kleinen Vogel.
Was passiert und erzählt wird, lässt sich vordergründig als ambivalente, in sich zerstrittene Kolonisierungsphantasie und Fortschrittskritik verstehen. Die Diktion, die Sprache, das langsame Herantasten und vorsichtige Sich-Nähern an den Kolonialhändler Kurtz in Afrika, dem widerspruchsvollen Helden Marlows, zeigt aber, dass sich hier das Selbst dem Rand seiner Zurechenbarkeit nähert. Hier stellt sich der Kulturmensch Marlow und mit ihm die ganze Zivilisation selbst in Frage:
Marlow verstummte und saß da: abgerückt, undeutlich und schweigend, in der Haltung eines meditierenden Buddha. Eine Weile rührte sich niemand. »Wir haben den Beginn der Ebbe verpaßt«, sagte der Direktor plötzlich. Ich hob den Kopf. Die Flußmündung war von einer schwarzen Wolken- wand verhängt, und die ruhige Wasserstraße, die bis an die äußersten Grenzen der Erde führt, strömte düster unter einem bewölkten Himmel dahin […]
Wenige Zeilen reichen nicht, den Reichtum des Textes einzufangen, die vielen Neben- und Hauptstränge dieser kurzen Novelle zu rekapitulieren. Hier spricht ein Erzähler aus der Fülle seiner Erfahrung und seines ungeminderten Empfindens. Wie auf hoher See im Sturm packt der Erzähler seine Zuhörer, die atemlos zuhören oder lesen, wie es jemand wagt, immer weiter hinaus, immer tiefer hinein zu fahren. Mit Joseph Conrad lassen sich wenige bruchlos vergleichen. Einer wäre Hermann Broch und sein „Der Tod des Vergil“, ein anderer Vergil selbst, vor allem mit seinem „Vergil“ in der Christian Ludwig Neuffer-Übersetzung.