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Einer meiner Nachhilfeschüler mit Migrationshintergrund fragte mich, ob ich ihm beim Verständnis seiner Schullektüre helfen könnte. So kam es, dass ich Frühlings Erwachen las, das ich nur von einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Aufführung im Stuttgarter Wilhelma-Theater kannte. Mir war noch in Erinnerung, dass es sich um ein Aufklärungsstück handelte. Daher erwartete ich eine etwas angestaubte Young Adult Lektüre. Angestaubt, da sexuelle Aufklärung heute in der Regel schon in der 6. Klasse im Biologieunterricht der Schule geleistet wird. Und auch schon in der Grundschule werden die meisten Schülerinnen und Schüler altersgemäß an die Frage herangeführt, woher Kinder kommen. Auch die koedukative Erziehung hilft, dass die Lebenswelten von Jungen und Mädchen heute nicht mehr so grundlegend voneinander unterscheiden. Das bedeutet natürlich nicht, dass Teenager-Schwangerschaften heute nicht mehr vorkommen und in anderen Ländern auch heute noch zu heimlichen Abtreibungen bei „Engelsmacherinnen“ führen.
Frühlings Erwachen geht aber weiter. Dort kommt auch Homosexualität Gewalt – einschließlich sexueller - gegen Kinder zur Sprache, etwa wenn Martha klagt: Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich drei Tage ins Kohlenloch. oder Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch – das Hemd herunter. Und auch Kinderprostitution, wenn auch verbrämt mit der Bonhomie einer Künstlerkolonie unter dem Namen (sic!) Priapia - für den Nicht-Lateiner: Priapus war ein römischer Fruchtbarkeitsgott mit überlangem Glied -, mit der sich Ilse, die ehemalige Klassenkameradin der Hauptpersonen, durchschlägt. Sicherlich erinnern einige der Künstlernamen nicht nur zufällig an Maler jener Zeit, deren jugendliche Modelle häufig auch ihre „Gespielinnen“ waren. Wedekind selbst hatte, wie wir aus seinen Tagebüchern wissen, in seiner Pariser Zeit eine Vorliebe für juvenile Prostituierte.
Leider ist das zweite Hauptthema, jugendlicher Selbstmord, immer noch aktuell. Und auch Schulversagen ist weiterhin ein Grund für diesen schrecklichen Schritt. Wobei ich hoffen möchte, dass ich und meine Kollegen nicht mehr so grausliche Lehrer sind, wie jene Abziehbilder, denen Wedekind die Namen Sonnenstich, Knüppeldick, Fliegentod und Hungergurt gibt. Jene Herren reagieren völlig gefühllos auf die Nachricht vom Tod eines Schülers und trachte nach Moritz Suizid vorrangig danach einen Schuldigen unter den Mitschülern zu finden, was ihnen mit Melchior und seiner selbstverfassten Aufklärungsschrift auch gelingt. Seine Weigerung vor dem versammelten Kollegium sich von der Schrift zu distanzieren (Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen sehr bekannte Tatsache ist! … Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!) erinnert sehr an den Auftritt Martin Luthers vor Kaiser Karl V. am Reichstag zu Worms („Ich kann und will nicht widerrufen, … es sei denn, dass ich mit Zeugnissen der Heiligen Schrift … widerlegt werde.“). Und ähnlich wie der Kaiser gehen die tumben Lehrer nicht auf die Aufforderung ein, sondern relegieren Melchior von der Schule. Nachdem seine Eltern, die ihm bisher Freiheit gelassen und zu ihm gehalten haben, erfahren, dass er Wendla geschwängert hat, endet er in einer Besserungsanstalt.
Doch nicht nur das Verhalten der Lehrer, sondern auch Melchior selbst, forderten mich zum Widerspruch heraus. Zu sehr drängt er sich als „Held“ bzw. „Opfer“ auf. Dabei sind seine Einstellung und sein Verhalten hochgradig selbstsüchtig. Nicht nur verweigert er seinem Freund Moritz moralischen Zuspruch als dieser von seinen Seelenqualen berichtet – ja er scherzt noch über Selbstmord als Ausweg -, sondern fühlt sich im Recht seine Seligkeit zu erkämpfen, sprich Wendla zu vergewaltigen. Ihr mehrmaliges . Nicht! Nicht, Melchior“ gellt wie die Vorwegnahme des aktuellen „No means no.“
Aber auch Wedekind verärgert mich. Nicht nur, dass der weibliche Sexualität und Leidenschaft nur als rein passiv auf Mutterschaft gerichtet darstellt, sondern er zeigt in der völlig überflüssigen sechsten Szene des zweiten Aktes eine glückliche Wendla, so als lasse ihr Melchiors Gewaltakt in einem besseren Lichte erscheinen lassen. Kein Wort von Trauma, Schmutz und Angst. Ich hoffe, dass moderne Aufführungen diese Szene unter den Teppich fallen lassen. Trotz dieser Kritik bin ich beeindruckt von der Frische dieses Dramas und davon, wieviel es auch gegenwärtigen Generationen von Jugendlichen, deren Eltern und Lehrern noch zu erzählen hat.
Frühlings Erwachen geht aber weiter. Dort kommt auch Homosexualität Gewalt – einschließlich sexueller - gegen Kinder zur Sprache, etwa wenn Martha klagt: Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich drei Tage ins Kohlenloch. oder Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch – das Hemd herunter. Und auch Kinderprostitution, wenn auch verbrämt mit der Bonhomie einer Künstlerkolonie unter dem Namen (sic!) Priapia - für den Nicht-Lateiner: Priapus war ein römischer Fruchtbarkeitsgott mit überlangem Glied -, mit der sich Ilse, die ehemalige Klassenkameradin der Hauptpersonen, durchschlägt. Sicherlich erinnern einige der Künstlernamen nicht nur zufällig an Maler jener Zeit, deren jugendliche Modelle häufig auch ihre „Gespielinnen“ waren. Wedekind selbst hatte, wie wir aus seinen Tagebüchern wissen, in seiner Pariser Zeit eine Vorliebe für juvenile Prostituierte.
Leider ist das zweite Hauptthema, jugendlicher Selbstmord, immer noch aktuell. Und auch Schulversagen ist weiterhin ein Grund für diesen schrecklichen Schritt. Wobei ich hoffen möchte, dass ich und meine Kollegen nicht mehr so grausliche Lehrer sind, wie jene Abziehbilder, denen Wedekind die Namen Sonnenstich, Knüppeldick, Fliegentod und Hungergurt gibt. Jene Herren reagieren völlig gefühllos auf die Nachricht vom Tod eines Schülers und trachte nach Moritz Suizid vorrangig danach einen Schuldigen unter den Mitschülern zu finden, was ihnen mit Melchior und seiner selbstverfassten Aufklärungsschrift auch gelingt. Seine Weigerung vor dem versammelten Kollegium sich von der Schrift zu distanzieren (Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen sehr bekannte Tatsache ist! … Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!) erinnert sehr an den Auftritt Martin Luthers vor Kaiser Karl V. am Reichstag zu Worms („Ich kann und will nicht widerrufen, … es sei denn, dass ich mit Zeugnissen der Heiligen Schrift … widerlegt werde.“). Und ähnlich wie der Kaiser gehen die tumben Lehrer nicht auf die Aufforderung ein, sondern relegieren Melchior von der Schule. Nachdem seine Eltern, die ihm bisher Freiheit gelassen und zu ihm gehalten haben, erfahren, dass er Wendla geschwängert hat, endet er in einer Besserungsanstalt.
Doch nicht nur das Verhalten der Lehrer, sondern auch Melchior selbst, forderten mich zum Widerspruch heraus. Zu sehr drängt er sich als „Held“ bzw. „Opfer“ auf. Dabei sind seine Einstellung und sein Verhalten hochgradig selbstsüchtig. Nicht nur verweigert er seinem Freund Moritz moralischen Zuspruch als dieser von seinen Seelenqualen berichtet – ja er scherzt noch über Selbstmord als Ausweg -, sondern fühlt sich im Recht seine Seligkeit zu erkämpfen, sprich Wendla zu vergewaltigen. Ihr mehrmaliges . Nicht! Nicht, Melchior“ gellt wie die Vorwegnahme des aktuellen „No means no.“
Aber auch Wedekind verärgert mich. Nicht nur, dass der weibliche Sexualität und Leidenschaft nur als rein passiv auf Mutterschaft gerichtet darstellt, sondern er zeigt in der völlig überflüssigen sechsten Szene des zweiten Aktes eine glückliche Wendla, so als lasse ihr Melchiors Gewaltakt in einem besseren Lichte erscheinen lassen. Kein Wort von Trauma, Schmutz und Angst. Ich hoffe, dass moderne Aufführungen diese Szene unter den Teppich fallen lassen. Trotz dieser Kritik bin ich beeindruckt von der Frische dieses Dramas und davon, wieviel es auch gegenwärtigen Generationen von Jugendlichen, deren Eltern und Lehrern noch zu erzählen hat.