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Coming-of-Age, aber entschlossen und wild, dunkel und hart. Literarisch mit unverwüstlichem Selbstbewusstsein vorgetragen.
Inhalt: 5/5 Sterne (wild-entschlossene Befreiung in Saigon)
Form: 4/5 Sterne (rhythmisch, teils hakelig, karg)
Komposition: 5/5 Sterne (Erzählen mit allen Mitteln)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (literarisiertes Selbstbewusstsein)
Marguerite Duras erhielt spät den Prix Goncourt, 1984 für das erfolgreichste und nach eigenen Aussagen „leichteste Buch“, das sie je geschrieben habe, Der Liebhaber. Wie Joseph Conrads n Herz der Finsternisn, wie Frantz Fanons n Die Verdammten dieser Erden und Alain Robbe-Grillet in n Die Jalousie oder Die Eifersuchtn thematisiert Duras mit eigener, prosadynamischer Kraft und erzählperspektivischem Furor die spätkolonialen Konflikte, psycho-sozialen Widersprüche, im damaligen Indochina, heute in Vietnam, Saigon:
Ich sehe die Frauen in den Straßen von Saigon an, auf den Außenstationen. Es gibt unter ihnen sehr schöne, sehr weiße, sie sind um ihre Schönheit äußerst besorgt hier, vor allem auf den Außenstationen. Sie tun nichts, sie erhalten sich nur, sie erhalten sich für Europa, für die Liebhaber, die Ferien in Italien, den sechs Monate langen Urlaub alle drei Jahre[…] Sie warten. Sie kleiden sich für niemanden und nichts. Im Schatten dieser Villen betrachten sie sich in Gedanken an später, sie glauben einen Roman zu leben, ihre weiten Schränke sind schon voller Kleider, mit denen sie nichts anzufangen wissen, angesammelt wie die Zeit, die lange Reihe der Tage des Wartens.
Die Atmosphäre leuchtet bitter. Sie strahlt Entfremdung. Die Klänge ziehen trostlose Kreise, und dazwischen die junge Ich-Erzählerin, gebeutelt vom frühen Tod ihres Vaters, irritiert vom tristen-lustlosen Leben ihrer Baumwollstrümpfe tragenden Mutter, von Geldsorgen durch den spielenden, drogensüchtigen älteren Bruder bedrängt und der Angst um den kränklichen jüngeren durchdrungen, der langsam dem subtropischen Klima zum Opfer zu fallen droht. In der Klaustrophobie einer entkoppelten, anämisch-sterbenden aristokratischen Linie rettet sich die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin als junges Mädchen in die Arme eines unsicheren, von seinem Vater tyrannisierten zwölf Jahre älteren Nordchinesen. Im entscheidenden Akt wechselt die Erzählerin die Erzählperspektive, mobilisiert die ganze Wucht modernen Beschreibens:
Es ist dunkel in diesem Raum, sie bittet nicht, die Jalousien hochzuziehen. Sie ist ohne ein bestimmtes Gefühl, ohne Haß, auch ohne Abscheu, dann ist vermutlich schon Begehren im Spiel. Sie kennt es noch nicht. Sie hat sofort eingewilligt mitzukommen, als er sie am Abend zuvor darum bat. Sie ist da, wo sie hingehört, hierher versetzt. Sie empfindet eine leichte Angst. […] Sie nimmt sehr aufmerksam das Äußere der Dinge wahr, das Licht, den Lärm der Stadt, von dem das Zimmer überflutet wird. Er, er zittert. Er sieht sie zunächst an, als erwarte er, daß sie zu sprechen beginne, aber sie sagt nichts.
Die Brutalität der Begegnung weicht einem emanzipatorischen Akt dort, wo sie beginnt, sich durch das Geld, das sie ihm entlockt, ihre Stellung in der Familie zu festigen, auf eigenen Füßen zu stehen, ja, über die Brüder und die Mutter hinauszuwachsen und schließlich Indochina samt Familiengeschichte zu verlassen. Sie wischt den Ruf der Prostituierten beiseite. Sie strebt ein Leben an, das ihr ein verwüstetes Gesicht schenken wird:
Dieses neue Gesicht habe ich behalten. Es war mein Gesicht. Selbstverständlich ist es weiter gealtert, doch weniger, als zu erwarten gewesen wäre. Ich habe ein von trockenen und tiefen Falten zerfurchtes Gesicht, mit welker Haut. Es ist nicht erschlafft wie manche Gesichter mit feinen Zügen, es hat die Konturen bewahrt, doch sein Stoff ist zerstört. Ich habe ein zerstörtes Gesicht.
Keine Zeile in Der Liebhaber, die nicht nach Verwüstung, Entfremdung, nach Haltlosigkeit und Zerstörung strebt, um sie doch, im symbolischen Glanz des rundenden Begreifens, letztlich aufzuheben, statt zu versöhnen, zu dynamisieren, Teil einer Ordnung, einer untergegangenen Welt werden zu lassen, die zurecht untergegangen ist. Marguerite Duras zeigt hier die intime, die heftige, die wilde Seite von Joseph Conrads n Herz der Finsternisn und bildet mit ihm ein dunkles Geschwisterpaar, das statt wie Robbe-Grillet in n Die Jalousie oder Die Eifersuchtn zu ermatten, dahinzusiechen, mit Verve die hässliche Seite der inneren wie äußeren Gewalt durchschreitet und mit einem Akt narrativer Entschlossenheit die Vergangenheit in ein offenes, für alle sichtbares Buch zu verwandeln.
Inhalt: 5/5 Sterne (wild-entschlossene Befreiung in Saigon)
Form: 4/5 Sterne (rhythmisch, teils hakelig, karg)
Komposition: 5/5 Sterne (Erzählen mit allen Mitteln)
Leseerlebnis: 5/5 Sterne (literarisiertes Selbstbewusstsein)
Marguerite Duras erhielt spät den Prix Goncourt, 1984 für das erfolgreichste und nach eigenen Aussagen „leichteste Buch“, das sie je geschrieben habe, Der Liebhaber. Wie Joseph Conrads n Herz der Finsternisn, wie Frantz Fanons n Die Verdammten dieser Erden und Alain Robbe-Grillet in n Die Jalousie oder Die Eifersuchtn thematisiert Duras mit eigener, prosadynamischer Kraft und erzählperspektivischem Furor die spätkolonialen Konflikte, psycho-sozialen Widersprüche, im damaligen Indochina, heute in Vietnam, Saigon:
Ich sehe die Frauen in den Straßen von Saigon an, auf den Außenstationen. Es gibt unter ihnen sehr schöne, sehr weiße, sie sind um ihre Schönheit äußerst besorgt hier, vor allem auf den Außenstationen. Sie tun nichts, sie erhalten sich nur, sie erhalten sich für Europa, für die Liebhaber, die Ferien in Italien, den sechs Monate langen Urlaub alle drei Jahre[…] Sie warten. Sie kleiden sich für niemanden und nichts. Im Schatten dieser Villen betrachten sie sich in Gedanken an später, sie glauben einen Roman zu leben, ihre weiten Schränke sind schon voller Kleider, mit denen sie nichts anzufangen wissen, angesammelt wie die Zeit, die lange Reihe der Tage des Wartens.
Die Atmosphäre leuchtet bitter. Sie strahlt Entfremdung. Die Klänge ziehen trostlose Kreise, und dazwischen die junge Ich-Erzählerin, gebeutelt vom frühen Tod ihres Vaters, irritiert vom tristen-lustlosen Leben ihrer Baumwollstrümpfe tragenden Mutter, von Geldsorgen durch den spielenden, drogensüchtigen älteren Bruder bedrängt und der Angst um den kränklichen jüngeren durchdrungen, der langsam dem subtropischen Klima zum Opfer zu fallen droht. In der Klaustrophobie einer entkoppelten, anämisch-sterbenden aristokratischen Linie rettet sich die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin als junges Mädchen in die Arme eines unsicheren, von seinem Vater tyrannisierten zwölf Jahre älteren Nordchinesen. Im entscheidenden Akt wechselt die Erzählerin die Erzählperspektive, mobilisiert die ganze Wucht modernen Beschreibens:
Es ist dunkel in diesem Raum, sie bittet nicht, die Jalousien hochzuziehen. Sie ist ohne ein bestimmtes Gefühl, ohne Haß, auch ohne Abscheu, dann ist vermutlich schon Begehren im Spiel. Sie kennt es noch nicht. Sie hat sofort eingewilligt mitzukommen, als er sie am Abend zuvor darum bat. Sie ist da, wo sie hingehört, hierher versetzt. Sie empfindet eine leichte Angst. […] Sie nimmt sehr aufmerksam das Äußere der Dinge wahr, das Licht, den Lärm der Stadt, von dem das Zimmer überflutet wird. Er, er zittert. Er sieht sie zunächst an, als erwarte er, daß sie zu sprechen beginne, aber sie sagt nichts.
Die Brutalität der Begegnung weicht einem emanzipatorischen Akt dort, wo sie beginnt, sich durch das Geld, das sie ihm entlockt, ihre Stellung in der Familie zu festigen, auf eigenen Füßen zu stehen, ja, über die Brüder und die Mutter hinauszuwachsen und schließlich Indochina samt Familiengeschichte zu verlassen. Sie wischt den Ruf der Prostituierten beiseite. Sie strebt ein Leben an, das ihr ein verwüstetes Gesicht schenken wird:
Dieses neue Gesicht habe ich behalten. Es war mein Gesicht. Selbstverständlich ist es weiter gealtert, doch weniger, als zu erwarten gewesen wäre. Ich habe ein von trockenen und tiefen Falten zerfurchtes Gesicht, mit welker Haut. Es ist nicht erschlafft wie manche Gesichter mit feinen Zügen, es hat die Konturen bewahrt, doch sein Stoff ist zerstört. Ich habe ein zerstörtes Gesicht.
Keine Zeile in Der Liebhaber, die nicht nach Verwüstung, Entfremdung, nach Haltlosigkeit und Zerstörung strebt, um sie doch, im symbolischen Glanz des rundenden Begreifens, letztlich aufzuheben, statt zu versöhnen, zu dynamisieren, Teil einer Ordnung, einer untergegangenen Welt werden zu lassen, die zurecht untergegangen ist. Marguerite Duras zeigt hier die intime, die heftige, die wilde Seite von Joseph Conrads n Herz der Finsternisn und bildet mit ihm ein dunkles Geschwisterpaar, das statt wie Robbe-Grillet in n Die Jalousie oder Die Eifersuchtn zu ermatten, dahinzusiechen, mit Verve die hässliche Seite der inneren wie äußeren Gewalt durchschreitet und mit einem Akt narrativer Entschlossenheit die Vergangenheit in ein offenes, für alle sichtbares Buch zu verwandeln.